Westfälische Biographien




Benita Koch-Otte

Künstlerin

✽ 23. Mai 1892 in Uerdingen
✝ 26. April 1976 in Bielefeld

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Zwei Frauen trafen sich im Sommer 1933 in Bethel bei Bielefeld, die kaum unterschiedlicher hätten sein können: Die eine war Bürgerstochter aus dem Rheinland und Lehrerin für Zeichnen, Turnen und Handarbeiten, die andere eine Landadlige aus Westfalen – die eine, Benita Koch-Otte, war zudem Künstlerin und kam vom Bauhaus, der legendären Schule für Gestaltung in Weimar bzw. Dessau. Die andere, Julia von Bodelschwingh, war Pfarrfrau in Bethel und hatte sich mit ihrem Mann Fritz von Bodelschwingh ganz der Fürsorge für körperlich und geistig Behinderte verschrieben. „Diese erste Begegnung mit Frau Julia ist unvergessen“,notierte Benita Koch-Otte im hohen Alter. „Sie kannte nicht die Welt, aus der ich kam, und ich nicht die ihre. Doch wir fanden uns im Gespräch wie zwei Liebhaber für die gleiche Sache. Da ging es um Flachs und Indigo, um Weben und Spinnen. Wirklich aber suchte sie den Menschen.“ Mit diesem Austausch begann ein besonderes Kapitel für Bethel und für Westfalen. Denn in den Anstalten fand Benita Koch-Otte, die verfemte und von den Nazis verfolgte Bauhaus-Künstlerin, mehr als nur einen Unterschlupf. Sie baute die bis dahin eher provisorisch betriebene „Webschule“ zu einem professionellen Werkstattbetrieb aus, der nach den Regeln des Bauhauses Textilien auf hohem Qualitätsniveau produzierte – und das von Behinderten und Nicht-Behinderten gemeinsam. Dieses Konzept war für die damalige Zeit einzigartig und hinterließ tiefe Spuren. Benita Otte, in Uerdingen bei Krefeld 1892 geboren, war Tochter eines Chemikers. Sie hatte sich nach dem Abitur zur Zeichen-, Turn und Handarbeitslehrerin ausbilden lassen und unterrichtete seit 1915 an der höheren Mädchenschule ihrer Heimatstadt. 1920 meldete sie sich zur weiteren Ausbildung am Staatlichen Bauhaus in Weimar an. Paul Klee wurde ihr wichtigster Lehrer. Sie lernte Gunda Stölzl kennen, die später ebenfalls als Textilkünstlerin bekannt wurde. Die beiden Frauen wurden zu „Besessenen des Webens“, wie Stölzl sich später erinnerte. Sie erkundeten die Textilfabrikation rund um Krefeld und ließen sich in den Techniken des industriellen Färbens und Webens ausbilden. Sie galten danach „in der Weberei-Abteilung des Bauhauses zusammen mit dieser industriellen Spezialausbildung auf dem Textilgebiet allseitig“ als herausragende Fachfrauen, wie der Bauhaus-Leiter und Architekt Walter Gropius später urteilte. Vom Bauhaus führte ihr Weg als Lehrerin an die Gewerbliche Zeichen- und Handwerkerschule auf Burg Giebichenstein bei Halle/ Saale. Dort lernte sie den Innenarchitekten Heinrich Koch kennen. Die beiden heirateten 1929. Ihr Traum, Kunst und Handwerk auf praktische Weise zu verbinden, war 1933 ausgeträumt. Die Nazis lösten das Bauhaus auf und stutzten die Schule auf Burg Giebichenstein zusammen. Beides passte nicht in die schwülstige NS-Kunstideologie. „Beide sind wir vogelfrei. Ob wir noch mal in Deutschland Arbeit finden ist bedeutend fraglich“, schrieb sie im Juni 1933 in einem Brief. „Wir wissen weder, in welche Stadt noch in welches Land. Beim Bauhaus gewesen zu sein ist eine furchtbare Verdächtigung. An sowas geht keiner mehr dran.“ Wenig später ging dann doch jemand „dran“: Julia von Bodelschwingh lud Benita Koch-Otte nach Bethel ein und bot ihr sogar die Leitung der anstaltseigenen Weberei an. „Frau Julia“, wie sie allgemein hieß, hatte diese Weberei gut zwei Jahrzehnte zuvor aufgebaut, um Kranken und Behinderten eine Möglichkeit der Arbeit zu bieten […]. Die beiden Frauen verstanden sich auf Anhieb. Doch Koch-Otte entschied sich, mit ihrem Mann außer Landes zu fliehen. In Prag fand er eine Stelle am Nationalmuseum. Er fiel im März 1934 einem Verkehrsunfall zum Opfer. Für Benita Koch-Otte brach eine Welt zusammen. Sie zog zu Freunden in ein Dorf bei Marburg – und besann sich bald auf das Angebot aus Bethel. Dort wurde sie Ende 1934 „wirtschaftliche und künstlerische Beraterin der ganzen Weberei“. Kaum angekommen, stellte sie alles auf den Prüfstand: die Organisation der Arbeitsabläufe, die Ausbildung der Lehrlinge, die bisher angebotenen Produkte, die Werbung, den Verkauf – und nicht zuletzt auch die Bilanzen. Doch insgesamt stellte sie klar: Die Arbeit in der Bethel’schen Werkstatt sei „für die Kranken da und nicht Geschäft, nicht Selbstzweck, nicht, Kunst‘“. Benita Koch-Otte arbeitete die Entwürfe aus und leitete die Beschäftigten an. Gefertigt wurden Tischdecken, Bettwäsche, Tücher, Decken, Gardinen, Stoffe für Möbel, Kleider und Mäntel, außerdem Schürzen und Kinderkleider sowie Knüpf- und Flickenteppiche. Die meisten Produkte wiesen zeitlos geometrische Muster auf. Ein Teppich, der nur in einem Foto aus dem Nachlass dokumentiert ist, fällt aus dieser Reihe heraus. Er weist Reichsadler, Eichenkranz und Hakenkreuz auf und war in den Bethel’schen Werkstätten für das Trau- und Sitzungszimmer der Gemeinde Gadderbaum angefertigt worden. Dieser Teppich war vermutlich eine Arbeit im Auftrag des Bürgermeisters, dem sich Koch-Otte kaum habe entziehen können, wie ihre Biografin Irene Below urteilte. Ein Journalist hingegen fragte 2013: „Was ist von einer Künstlerin zu halten, die in ihrem Werk NS-Symbole und das von den Nazis geschlossene Bauhaus zusammenbringt?“ Mit gleichem Recht lässt sich freilich auch fragen: Was ist von einer Künstlerin zu halten, die während des NS-Mordprogrammes namens „Euthanasie“ körperlich und geistig Behinderte nicht nur anleitete und beschäftigte, sondern mit ihnen an einem öffentlichen Umzug zum „Tag der nationalen Arbeit“ am 1. Mai 1941 teilnahm – und das sogar auf einem Wagen, der ebenfalls die Insignien der Partei trug? War das nun ein Bekenntnis zu NS-Regime und Partei – oder war es das gerade nicht, sondern vielmehr eine öffentliche Provokation? Die Antwort auf all diese Fragen werden vermutlich weder schwarz noch weiß ausfallen und dürften erst beim Blick ins Archiv der Bethel’schen Anstalten zu klären sein. Sie selbst sah sich – nach anfänglichen Irritationen – dem Geist christlicher Diakonie verpflichtet. An Gropius schrieb sie um die Jahreswende 1947/48: „So durchaus man Bauhäusler bleibt, so durchaus bleibe ich, wohin ich auch noch verschlagen werden mag, Bethel zugehörig. Es ist die Kraft einer Gemeinschaft, die nicht sich selbst meint und deshalb bindet.“ Noch Jahre nach ihrer Pensionierung 1957 unterrichtete sie unter anderem textiles Handwerk und Farbenlehre. Benita Koch-Otte starb am 26. April 1976 in Bielefeld. Bis heute werden in Bethel Textilien produziert, die auf ihre Entwürfe zurückgehen.


Zur Person

Ehen: Heinrich Koch

Quellen

Strotdrees, Gisbert: Flachs, Indigo und Weben. In: Wochenblatt für Landwirtschaft und Landleben. Westfälische Köpfe 6 (2016). S.98. Übernommen mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Empfohlene Zitierweise

Gisbert Strotdrees: Benita Koch-Otte. In: Westfälische Biographien, hrsg. von Altertumsverein Paderborn und Verein für Geschichte Paderborn. Online-Ausgabe unter http://www.westfälische-biographien.de/biographien/person/1967 (Version vom 09.09.2016, abgerufen am 21.11.2024)

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